Der Telegrafenberg 1874–2008: Wissenschaften, Bauten und Gärten sowie Lehre und Forschung in Potsdam

4.1 Intension zur Gründung und die Entwicklung der Forschungsinstitute

J. Staude, P. Bormann, D. Fritzsche, J. Höpfner & D. Spänkuch

Wilhelm Julius Foerster

Mitte des 19. Jahrhunderts hatten mehrere Entdeckungen in der Sonnenforschung Aufsehen erregt: 1844 berichtete Samuel Heinrich Schwabe aus Dessau über seine Entdeckung des 11-jährigen Sonnenflecken-Aktivitätszyklus.  Gustav Spörer erforschte in Anklam erfolgreich Gesetzmäßigkeiten der Sonnenflecken-Positionen und deren Rotation.  Etwa gleichzeitig (um 1860) hatten Gustav Kirchhoff und Robert Bunsen in Heidelberg die Spektralanalyse begründet und damit die einzigartige Möglichkeit eröffnet, aus der Analyse des Lichtes der Sterne Informationen über deren physikalische Zustände und Prozesse, die chemische Zusammensetzung und die Dynamik abzuleiten.  Weitere Möglichkeiten zur Erforschung der Sonne und anderer Sterne ergaben sich aus den Erkenntnissen der Wärmelehre, der Strahlungstheorie und der Verfügbarkeit der photographischen Platte als Datenträger.

Es entstand der Wunsch, in der Nähe Berlins eine "Sonnenwarte" zu errichten, um diese neuen Ideen der "Astrophysik" als Erweiterung der klassischen Astronomie (Konzentration auf Bahnbestimmungen) zunächst auf die Erforschung der Sonne anzuwenden.  Karl H. Schellbach, Professor für Mathematik und Physik in Berlin, interessierte seinen Schüler, Kronprinz Friedrich Wilhelm (später Kaiser Friedrich III.), für diese Ideen.  Dieser ließ den Vorschlag von Wilhelm Julius Foerster, Direktor der Berliner Sternwarte und genialer Wissenschaftsorganisator, begutachten, der in seiner Denkschrift neben einer Sonnenwarte auch eine Ausrüstung für meteorologische und geomagnetische Messungen forderte.  1871 wurde Foersters Denkschrift an das "Preussische Ministerium der Geistlichen, Unterrichts- und Medicinal-Angelegenheiten" eingereicht, das ein weiteres Gutachten bei der Königlichen Akademie der Wissenschaften in Auftrag gab.  Darin wurde Foersters Konzept bestätigt und sogar erweitert: Das neue Astrophysikalische Observatorium Potsdam (AOP) sollte, über die Sonnenforschung hinausgehend, auch andere Sterne untersuchen und als erstes wissenschaftliches Institut fertiggestellt werden.  Für Meteorologie und Erdmagnetismus sollten dann selbständige  Observatorien entstehen.

Nach der endgültigen Bewilligung durch den preußischen Landtag im Winter 1873—74 konnte mit der Realisierung begonnen werden.  Am 1. Juli 1874 nahm das AOP als weltweit erstes astronomisches Institut mit einem astrophysikalisch orientierten Programm offiziell seine Tätigkeit auf.  Mit der Planung der Instrumentierung und des Forschungsprojektes selbst wurde ein Direktorium unter Leitung von Arthur Auwers (Akademie-Astronom), W. Foerster und G. Kirchhoff  beauftragt.  Später wurde Hans Carl Vogel hinzugezogen und 1882  zum Direktor ernannt. 

Die Architektur und Bauplanung übernahm Paul Emanuel Spieker, der bei dem Schinkel-Schüler F. A. Stüler studiert hatte.  Die Bautätigkeit begann sofort 1874: Bis 1875 entstanden Zweckbauten wie das Brunnenhaus (A39) und 4 Wohnhäuser (A3, A5, A6, A33).  Das Hauptgebäude des AOP wurde dann von 1876—79 als erstes Forschungsgebäude (A31) fertiggestellt.  Es folgten fast gleichzeitig 1888—89 der Kuppelbau des Photographischen Refraktors des AOP (in der Nähe der ehemaligen optischen Telegraphenstation, A32), 1888—91 das Meteorologische Observatorium (A62) mit dem „Variationshaus“ (A58) zur Erforschung der Erdmagnetfeldes, 1888–93 das Geodätische Institut (A17; dieses war bereits am 1.1.1870 in Berlin gegründet worden und siedelte nun nach Potsdam über) und 1893 der Helmert-Turm (A7) des Geodätischen Instituts.

Als größtes Instrument des AOP wurden 1899 der Grosse Potsdamer Doppel-Refraktor (Gebäude und Instrument; A27) vollendet; das größere der beiden Teleskope ist bis heute das viertgrößte Linsenfernrohr der Welt.  Kaiser Wilhelm II nahm am 26.8.1999 selbst die feierliche Einweihung vor.  Das "Beamtenwohnhaus" (A26) gegenüber wurde gleichzeitig fertiggestellt.

Der Einsteinturm des Architekten Erich Mendelsohn (A22), das aus architektur- und wissenschafts-historischer Sicht wohl berühmteste Bauwerk auf dem Telegrafenberg und eine der Attraktionen für Potsdam-Besucher, wurde erst 25 Jahre später (1924) vollendet.  Es war das erste Turmteleskop in Europa und für Jahrzehnte eine der größten und leistungsfähigsten Sonnenforschungsanlagen der Welt.

 

4.2 Bauten und Gärten

MM, H.-J. PAECH & M. Pestke

1876—1928

1876 beginnt auf einem ca. 16 ha großen Stück des Königlichen Forstes die Errichtung wissenschaftlicher Observatorien bzw. Institute mit dem Bau des Astrophysikalischen Observatoriums Potsdam (AOP), das 1874 gegründet worden war.  1888–1889 wird das Magnetische Observatorium, 1890–1892 das Meteorologische Observatorium und 1891–1892 das Geodätische Institut errichtet. Diese „klassische“ Bauphase wird von Oberbaudirektor Paul Emanuel Spieker geprägt. (siehe Bild 3.1.2)

Die drei Hauptgebäude liegen nahezu äquidistant auf einer NW–SE Geraden, die die Schrägaufsicht von Spieker nicht erkennen lässt.  Die Hauptgebäude bilden mit dem Eingangstor ein annähernd gleichschenkliges Dreieck.

um 1910

Rechts vom historischen Eingangstor, nahe der damaligen Luckenwalder Straße, der heutigen Albert-Einstein-Straße, liegt das Pförtnerhaus (A41).  Sein Wachzimmer wurde 2006 erweitert und zum neuen, breiteren Eingang hin umorientiert.  Gegenüber des alten Tores liegt das Maschinistenwohnhaus (A40) und dahinter der Wirtschaftshof, der den Berg nahezu autark machte, so durch seinen 1874 geteuften, 48 m tiefen Brunnen (A39) und sein Maschinenhaus (A37) mit einer Gasanstalt, die mit Hilfe eines Generators auch elektrischen Strom für den Berg lieferte.

Innerhalb des Dreiecks wurden die Wohnhäuser des Direktors (A33), heute Kindergarten, der Observatoren (A3, A6) und des Assistenten (A5) sowie 1893 der Helmerttum errichtet.  Der Photographische Refraktor (A32, die „Fotokuppel“), der sehr nahe (nördlich) der 1832 gebauten optischen Telegraphenstation stehen dürfte, liegt leicht außerhalb des Dreiecks.

Die Bauten nehmen die Potsdamer Farben auf: sie haben gelbe Klinkerfassaden mit roten Bändern; die repäsentativsten Bauten, so die Hauptgebäude und der Große Refraktor, sind zusätzlich mit Sternfriesbändern aus glasierten Ziegeln verziert.

Bewusst außerhalb dieses Dreiecks wurden 1897 das Beamtenwohnhaus (A26), 1896–1899 der Große Refraktor (A27) und sein Maschinenhaus (A28),  1901 die Erdbebenwarte (A18), ein Gebäude der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt (A14),  1921–1924 der Einsteinturm (A22) durch Mendelsohn und 1928 das Freundlichhaus (A34, Wohnhaus) durch Reling erbaut.

1950—1985

Das Gelände um die Gebäude herum wurde eklektizistisch gestaltet, vorwiegend von Spieker.  Nur das Areal am Einsteinturm wurde später von Richard Neutra und Karl Foerster gärtnerisch geformt (Eggers ~1998a, in HJP unveröff.).

Das bedeutendste Gebäude nach dem 2. Weltkrieg erhielt 1964 das Geomagnetische Institut (A43), das heute vom Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung genutzt wird.  Daneben entstanden vor allem Werkstätten, Dienstleistungseinrichtungen und Lager.  Sie wurden nicht immer mit spürbarem geometrischem Bezug zu den vorhandenen Gebäuden errichtet und sind zum erheblichen Teil nach 1992 abgebrochen worden

1990—2005

Ab 1992 wurde beträchtliche Mittel investiert, um die historische Gesamtanlage wieder erlebbarer zu machen.

Neues wurde mit klarem Bezug zur historischen Geometrie errichtet.  Die Häuser B bis G wurden 1995–1996 gebaut.  Seit Januar 1997 werden sie durch das GeoForschungsZentrum genutzt.  Sie liegen, leicht versetzt, auf einer Geraden und sind durch verglaste schwebende Gänge verbunden.  Haus G liegt genau auf der verlängerten Achse von großem Refraktor und dem AOP.  Auch das 1999 fertig gestellte Laborgebäude des AWI (A45) wurde streng symmetrisch zu den Gebäuden A3, A6 und A5 gebaut.

Besonderheiten, Ereignisse und Anekdoten

Elektrischer Strom wurde auf dem Berg früher genutzt als in der Stadt Potsdam.

Der Brunnen wurde mit 3,5 m Durchmesser ausgelegt und mit einer begehbaren Wendeltreppe ausgestattet, um in einem in 24 m Tiefe abzweigenden Stollen Bodenwärmemessungen durchzuführen.

4.3 Rundgang über den Telegrafenberg

4.4 Astrophysik

J. Staude

Tabelle 4.4  Astrophysiker und ihre Leistungen

  • 1874  Gründung des Astrophysikalischen Observatoriums Potsdam (AOP) als weltweit erstes astrophysikalisches Forschungsinstitut
  • 1876–79  Bau des Hauptgebäudes des AOP als erstes Forschungsinstitut auf dem Telegrafenberg
  • 1874–94  Gustav Spörer und Oswald Lohse untersuchen die Feinstruktur von Sonnenflecken und deren Positionen auf der Sonnenoberfläche ("Spörer's Gesetz" – Grundlage für Theorie des Aktivitätszyklus)
  • 1881  A. A. Michelson führt im Keller des Hauptgebäudes erstmalig seinen Versuch zum Nachweis der vermuteten Relativbewegung der Erde zum Äther als Träger der Lichtwellen durch – Grundlage für Einsteins Spezielle Relativitätstheorie (1905)
  • 1882–1907  Hermann Carl Vogel ist erster Direktor des AOP (1874–82 Observator)
  • 1888  Erstmalige photographische Bestimmung der Radialgeschwindigkeit von Sternen sowie Entdeckung und Untersuchung spektroskopischer Doppelsterne durch H. C. Vogel (Entdeckung der Algol-Typ Sterne), Johannes Hartmann, Hans Ludendorff u. a.
  • 1896  Erste Versuche zum Nachweis der Radiostrahlung der Sonne durch Johannes Wilsing und Julius Scheiner am AOP
  • 1899  Fertigstellung des Potsdamer Großen Refraktors
  • um 1900  Arbeiten von J. Scheiner, H. C. Vogel und J. Wilsing sowie Gustav Müller und Erich Kron zur Spektralphotometrie und Temperaturbestimmung von Sternen und der Sonne
  • 1904  Entdeckung der interstellaren Materie mit Hilfe der "ruhenden Kalzium-Linien" durch Johannes Hartmann
  • 1909–16  Karl Schwarzschild ist Direktor des AOP, bahnbrechende Arbeiten zur Astrophysik einschließlich Sonnenphysik, zur theoretischen Physik und zur Mess- und Beobachtungstechnik, u. a.: Entwicklung der Grundlagen der Physik der Sternatmosphären, des Strahlungsenergietransports und der Konvektion ("Schwarzschild-Kriterium"), Ableitung des fotografischen "Schwarzschildschen Schwärzungsgesetzes"
  • 1913  Entdeckung stellarer Kalziumemissionen als Hinweise auf Oberflächenaktivität durch Gustav Eberhard und K. Schwarzschild
  • 1914  K. Schwarzschild versucht erstmalig, die von Einstein vorhergesagte Gravitationsrotverschiebung der solaren Fraunhofer-Linien mit einem Spektrografen vom Turm des Beamtenwohnhauses aus zu messen
  • 1916  K. Schwarzschild findet die ersten beiden exakten Lösungen der Gleichungen der Allgemeinen Relativitätstheorie Albert Einsteins (sphärisch-symmetrische Lösungen, Schwarzschild-Metrik, Schwarzschild-Radius – heute u. a. Grundlage der Theorie schwarzer Löcher)
  • 1921–24  Bau des Einstein-Turmes auf dem Telegrafenberg: A. Einstein – Präsident des Kuratoriums der "Einstein-Stiftung",  Erwin F. Freundlich – Planung der Instrumentierung und Direktor bis 1933, Erich Mendelsohn – Architekt
  • 1925–30  Versuche zur Messung der Gravitationsrotverschiebung im Sonnenspektrum durch E. F. Freundlich und Mitarbeiter, Bestätigung des "Limb-Effekts"
  • 1929  Sonnenfinsternis-Expedition nach Sumatra, Messung der von Einstein vorhergesagten Lichtablenkung am Sonnenrand (E. F. Freundlich) und des Sonnen-Korona-Spektrums (Walter Grotrian)
  • 1930–39  W. Grotrian entwickelt die moderne Koronaphysik, identifiziert die ersten der bis dahin unbekannten Emissionslinien im Koronaspektrum und entdeckt die extremen Bedingungen der Korona (Temperaturen über 1 Million Grad)
  • seit 1941  Erste europäische Messungen kosmischer Magnetfelder in Sonnenflecken am Einsteinturm durch Harald von Klüber, später Fortsetzung und Weiterentwicklung durch W. Grotrian, Wolfgang Mattig, Egon Horst Schröter, Horst Künzel, Friedrich Wilhelm Jäger u.a.
  • 1947  Übernahme von AOP und Sternwarte Babelsberg durch die Deutsche Akademie der Wissenschaften
  • 1957  E. H. Schröter erklärt Messungen der Gravitationsrotverschiebung und des Limb-Effekts mit Konvektionstheorie
  • 1958  Magneto-hydrostatisches Sonnenfleckenmodell von W. Mattig
  • 1969  Gründung des Zentralinstituts für Astrophysik (ZIAP – Hauptsitz in der Sternwarte Babelsberg) und des Zentralinstituts für Solarterrestrische Physik (ZISTP – Hauptsitz in Berlin); auf dem Telegrafenberg gehörte die Sternphysik nun zum ZIAP, die Sonnenphysik bis 1984 zum ZISTP, dann auch zum ZIAP
  • 1992  Beginn der Tätigkeit des Astrophysikalischen Instituts Potsdam (AIP – Nachfolger des ZIAP), Karl-Heinz Rädler wird erster wissenschaftlicher Vorstand
  • 1998  Günther Hasinger wird wissenschaftlicher Vorstand des AIP
  • 2001  Klaus G. Strassmeier wird wissenschaftlicher Vorstand des AIP
  • 2004  Matthias Steinmetz wird wissenschaftlicher Vorstand des AIP